#10 The Kea Incident

#10 The Kea Incident

Nach unserem Pinguinglück am gestrigen Tag geht es nach einer Nacht auf dem Freedom Campingplatz heute ins Landesinnere. Aber nachdem gestern von den drei Sanddollar-Fragmenten, die wir am Strand gefunden haben, zwei kaputt gegangen sind, beschließt Annika hochmotiviert, den Strand noch einmal abzusuchen. Sie findet tatsächlich einen, während Fabian noch zu müde ist, um aus dem Zelt gekrochen zu kommen. Doch die Sanddollar haben es nicht leicht mit uns, denn beim Zeltabbau fliegt ein Hering aus Fabians Hand ungeschickterweise genau auf den frisch gefundenen, der – natürlich – zerbricht. Also machen wir uns eine dritte Runde auf zum Strand und mit viel Geduld finden wir schließlich einen weiternen. In Gore, einer Stadt im Landesinneren, kaufen wir dann, um weitere unglückliche Unfälle dieser Art zu vermeiden, einen kleinen Sortierkasten für zerbrechliche Fundstücke. Gore ist eine eigentlich kleine Stadt auf halber Strecke zwischen Meer und Gebirge, die sich aber, äußerst bescheiden, für die “World capital of brown trout fishing” hält. Wer hätte gedacht, dass unsere Reise uns in die “World capital of trout fishing” (Tūrangi) und jetzt sogar noch in die “World capital of brown trout fishing” (Gore) führt! Gore ist außerdem der südlichste Punkt, den wir auf unserer gesamten Reise erreicht haben bzw. erreichen werden.

Nachmittags kommen wir dann am Lake Manapouri an, an dessen Ufer das Dorf Manapouri mit einem sehr schönen Campingplatz auf uns wartet. Bevor wir schlafen gehen, packen wir unsere großen Rucksäcke, denn am nächsten Morgen starten wir früh. Wir bauen verschlafen das Zelt ab und fahren Richtung Te Anau, dort ist ein Wanderparkplatz, an dem wir unser Auto für die nächsten drei Tage abstellen und von dem eine Hängebrücke über den Waiau River führt. Auf der anderen Flusseite beginnt dann der Kepler Track, ein über 60 Kilometer langer Wanderweg durch einen kleinen Teil des Fjordland-Nationalparks, den wir in drei Tagen laufen wollen.
 
Das Licht fällt malerisch durch das dichte Blätterdach des Uferwaldes, als wir die mit Zeltsach und Proviant für drei Tage bepackten Rucksäcke schultern und uns auf den Weg machen. Noch sind unsere Füße frisch und wir kommen auf dem federnden Waldboden gut voran, zumindest wenn wir nicht gerade vom Versuch, einen Vogel auf der Kamera zu erwischen, abgelenkt sind. Unser Ziel heute ist die Iris Burn Hut, dafür folgt unser Weg zuerst dem Waiau-River (der übrigens einen Flussabschnitt des Anduin in Herr der Ringe verkörpert), bis wir am Lake Manapouri, diesmal nicht beim Campingplatz, sondern auf der gegenüberliegenden Uferseite, ankommen. Der Waldboden rund um den See ist mit Farnen und Pilzen bedeckt und ständig kreuzen Vögel unseren Weg, wir sehen New Zealand Robins, Tomtits und zutrauliche Fantails.
 
Wir lassen den See an der Mündung eines Flusses mit dem Namen Iris Burn hinter uns und ab jetzt geht es langsam, aber stetig aufwärts. Die meiste Zeit bleiben wir im Wald, Pause machen wir an einer Schutzhütte am Flussufer, wo wir freundliche Neuseeländer*innen treffen und eine ganze Ananas verputzen.
 
Kurz vor der Hütte verlassen wir zur Abwechslung den Wald und müssen eine “Big Slip” genannte, sumpfige Ebene durchqueren, auf der die Holzbohlen des Weges zum größten Teil schon unter der Wasseroberfläche liegen und wir gerade so trockenen Fußes durchkommen. Circa eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichen wir die Iris Burn Hütte, wo wir auf einem wunderschönen Natur-Zeltplatz unser Zelt aufbauen. Obwohl unsere Füße und Fabians Rücken schmerzen, machen wir noch einen Abstecher an einen Wasserfall ein Stück flussaufwärts, bevor uns kurz nach Dämmerung noch ein Briefing zum Campingplatz vom Ranger der Hütte erwartet. 
Wir sind tatsächlich gespannt darauf, denn auf Schildern wird dort vor Keas gewarnt, großen, grünen Bergpapageien, die scheinbar den Campingplatz heimsuchen. Was der Ranger dann über “the Kea situation” berichtet, sprengt unsere Vorstellung. Er erzählt, dass in den bewaldeten Berghängen rund um Hütte und Zeltplatz eine Gruppe Keas lebt, die mit der Zeit gelernt habe, dass die Zelte ein spannendes Ziel für kleine Überfälle sind, vor allem, weil sich darin manchmal Müsliriegel oder Nüsse finden lassen. Dabei schrecken die Papageien vor wenig zurück. Sie können Reißverschlüsse öffnen, zerschneiden Zelte mit ihren Schnäbeln, kommen in der Dunkelheit der Nacht und lassen sich von den Menschen in und um die Zelte ziemlich wenig beeindrucken. Das alles zeigt beeindruckend die Intelligenz und Lernfähigkeit der Keas, die sogar soweit geht, dass sie, obwohl eigentlich tagaktiv, ihre Aktivitäten rund um den Zeltplatz erst im Dunkeln starten. 
 
Wir – und unser Zelt – haben den Umständen entsprechend ganz gute Karten, die Nacht unbeschadet zu überstehen, da die Keas zwar immer noch jede Nacht kommen, aber in den letzten Wochen etwas weniger Schaden angerichtet haben; davor konnte man damit rechnen, dass die Hälfte aller Zelte morgens Löcher hatte! Laut dem Ranger kam es außerdem im Sommer zu mehreren Fällen, in denen Keas nachts in Zelte gehüpft kamen und dort ein riesengroßes Chaos angerichtet (und die darin Schlafenden vermutlich zu Tode erschrocken) haben. Später auf unserer Tour treffen wir auch noch eine Französin, die von befreundeten Wanderern erzählt, deren Zelt vor ein paar Monaten in einer Sommernacht einmal der Länge nach aufgeschlitzt wurde. Wir hoffen also, dass die Keas nicht ausgerechnet heute ihre etwas sanftere Phase beenden und bringen alles an Gepäck, was wir nicht unbedingt im Zelt brauchen, in einen Kea-sicheren Holzverschlag (der aber leider nicht mäusesicher ist, was zumindest zwei Löcher in Annikas Rucksack am nächsten Morgen vermuten lassen).
 
Der Ranger bereitet uns aber nicht nur auf die Keas vor, sondern gibt den Zeltenden noch den Tipp, unter der Wurzel eines umgefallenen Baums nach Glowworms zu schauen und auf dem Weg dorthin nach Kiwis Ausschau zu halten und zu horchen, er imitiert überraschend gut die verschiedenen Rufe männlicher und weiblicher Vögel. Die Aussicht auf Glowworms und noch dazu die eventuelle Chance, Kiwis zu sehen, durchkreuzt unser Vorhaben, müde und erledigt wie wir sind, schnell in die Schlafsäcke zu schlüpfen. Wir machen uns also mit rot leuchtender Stirnlampe (um keine Kiwis zu blenden) auf den Weg und tatsächlich sind wir gar nicht lange gelaufen, als Annika vor uns ganz deutlich einen Kiwi um einen Baum huschen sieht. Wir bleiben wie versteinert stehen und können ihn etwas weiter entfernt vor uns auf dem Waldweg picken sehen. Ihn? Tatsächlich stellt sich der Kiwi als Kiwiweibchen heraus, denn es streckt den Schnabel in die Höhe und ruft den unverkennbaren Schrei weiblicher Kiwis in den Wald hinein. Wir können die Begegnung kaum glauben, nachdem der Vogel vom Weg ins Dickicht verschwunden ist, aber lange haben wir gar nicht Zeit, da huscht vermutlich der gleiche Kiwi noch einmal über den Weg. Dieses Mal verschwindet er sofort zwischen Büschen, bleibt dort aber in Blickweite, sodass wir mehrere Minuten beobachten können, wie er mit seinem langen Schnabel im Boden herumpickt. Besser kann man einen Kiwi in der Wildnis kaum sehen, was ein Glück!
 
Die Glowworms, eigentliches Ziel unseres nächtlichen Ausflugs sind dann auch faszinierend. Im Dunkeln der Baumwurzeln hängen um die hundert bläulich glühende Punkte, Larven einer Mücke, die in Te Reo Māori titiwai heißt. Die 3 – 5 mm großen Larven spinnen ein Netz aus mit klebrigen Tropfen gespickten Seidenfäden, in denen sich ihre vom Leuchten angelockte Beute verfängt.
Beschwingt von unserem nächtlichen Ausflug kehren wir zum Zelt zurück, fallen dort aber todmüde in unsere Schlafsäcke und schlafen wie Steine.
 
Unser Wecker klingelt früh, noch vor Sonnenaufgang, denn heute, am zweiten Tag, erwartet uns die längste, steilste und anstrengste Etappe des Kepler Tracks. Um unsere Sachen aus dem Holzverschlag zu holen, macht sich Fabian auf den Weg durch den dunklen Wald, verirrt sich erstmal und stolpert dann, damit müssen wir unser Tierglück für die ganze Reise eigentlich aufgebraucht haben, fast über einen Kiwi! Da er erstmal im Gebüsch neben dem Weg zu bleiben scheint, holt Fabian schnell Annika aus dem Zelt und gemeinsam können wir, aus vielleicht zweieinhalb Metern , in aller Ruhe einen Kiwi bei der Nahrungssuche beobachten. Drei Kiwisichtungen in einer Nacht – wir sind sehr glücklich.
 
Beim Zeltabbau wird es dann nochmal spannend. Im Dämmerlicht des frühen Morgens, noch bevor der Himmel im Osten heller zu werden beginnt, hören wir auf einmal das Geräusch großer schlagender Flügel und auf einmal hüpft, zwei Meter vor unserem Zelt, ein großer, grüner Kea aus dem hohen Gras. Fabian versucht ihn mutig wegzuhoohen (wie uns der Ranger empfohlen hat), aber der Vogel zeigt sich davon gänzlich unbeeindruckt. Auch die Empfehlung, zu klatschen und auf ihn zuzugehen, bewirkt nur, dass er in kleinen Hüpfern immer so weit weghüpft, dass er genau in sicherer Distanz ist, dreht man ihm dann den Rücken zu, ist der große Papagei sofort wieder auf dem Weg zum Zelt. Kein Wunder, dass wir deshalb einen neuen Rekord im Abbau unseres Zeltes aufstellen. Erst als wir die Hütte hinter uns gelassen haben und der steile Anstieg entlang der Flanke des Flusstals beginnt, sind wir sicher, dass unser Zelt – und wir – die Nacht unbeschadet überstanden haben.
 
Unsere Etappe heute startet hart. Wir laufen den Kepler Track im Uhrzeigersinn, andersherum als die meisten anderen, was den Vorteil hat, dass die Zeltplätze geschickter liegen und wir fast immer allein auf unserem Wegstück sind. Nachteil ist, dass der Anstieg auf den Gebirgszug, um dessen Grate und Gipfel sich der Weg oben windet, fies ist. Als wir endlich die Baumgrenze erreichen, werden wir mit dem Ausblick auf die gebirgige Landschaft und der ersten Schutzhütte in Sichtweite belohnt, wo wir uns Porridge zum Frühstück machen und unseren Beinen eine kurze Verschnaufpause gönnen. Der neunjährige Junge, der mit seiner Mutter ebenfalls gerade Rast macht, erzählt uns, dass er zwar noch nicht oft Wandern, aber schon oft Jagen war. Willkommen in Neuseeland… Vom “Rocky Shelter” führt der Weg durch felsig-grasiges Terrain und bietet in alle Richtungen Ausblicke auf die hohen Berge  Fjordlands mit schneebedeckten Gipfeln, das Farm und Weideland rund um Te Anau und die großen Seen östlich der Berge. Der Weg führt über Sättel und Grate, entlang tiefer Täler und – als kleiner Abstecher – auf den Gipfel des Mount Luxmore. Ein Stück unterhalb des Gipfels haben wir nochmal Tierglück und sehen einen Kea. Grün wie er ist, ist er zwischen den Gras- und Moosbüscheln gut getarnt, aber wir haben Glück und entdecken ihn schon im Landeanflug. 
Vom Gipfel des Luxmore fällt unser Weg langsam aber stetig ab und nähert sich immer weiter der Baumgrenze. An der Luxmore Hut, die wir ein wenig später erreichen, erwartet uns der Ranger der Hütte, der uns empfiehlt, auf dem Abstieg nach den vielen verschiedenen Pilzen Ausschau zu halten und – alle guten Dinge sind Drei – ein Kea, der auf dem Dach der Hütte sitzt und laut ruft.
 
Der Weg hinunter zum Lake Te Anau ist lange und beschwerlich und zieht sich endlos hin. Annikas Füße haben langsam genug vom vielen Rumgelaufe und fangen an, ziemlich wehzutun. Angesichts des Weges, der noch vor uns liegt, machen wir erst einmal eine Pause, aber als wir auf dem Weg sitzen, hören wir hinter uns etwas flattern. Wir drehen uns um und dort sitzt Kea Nr. 4 auf einem Ast, nur zwei Meter von uns entfernt und beobachtet uns, den Kopf zur Seite geneigt, sichtlich interessiert. Er lässt uns genug Zeit, um ein paar Fotos zu machen und fliegt dann ein Stück weiter in den Wald hinein. Zeit für uns, weiterzuwandern und endlich kommen wir, müde und mit Schmerzen am ganzen Körper, am Zeltplatz am Ufer des Lake Te Anau an.
 
Der dritte Tag auf dem Kepler Track verläuft insgesamt unspektakulär aber auf einem schönen Waldweg. Zum Glück ist die letzte Etappe kürzer (“nur” 16 km) und wir kommen schon Mittags am Auto an, wo wir uns als allererstes Nutellawraps machen. Wir genießen die angenehmen Seiten der Zivilisation, kaufen erst mal leckere Sachen für leckere Wraps und genießen eine warme Dusche.
Nach drei Tagen Wildnis (na ja, fast) erwartet uns als Kontrastprogramm eine Tour zum und durch den Milford Sound. Da wir auf unserem Flexipass, mit dem wir in den Intercitybussen auf der Nordinsel unterwegs waren, noch Fahrtzeit übrig haben, können wir den Bus darüber buchen und müssen nur das Boot zusätzlich zahlen, wodurch das ganze gar nicht so teuer wird. Die Busfahrt selbst gestaltet sich unterhaltsamer als wir dachten, der Fahrer schafft es nämlich, die drei Stunden bis zur Spitze des Fjords am Stück Geschichten über Milford Sound, Neuseeland allgemein und jede Kleinigkeit, die rechts und links der Straße auftaucht, parat zu haben. Unerwartet kommen auch die Fotostopps auf der Fahrt, die wir damit verbringen, nicht nur die Landschaft, sondern auch unsere Mitreisenden beim Posen zu beobachten.
 
Auf den Milford Sound (Busfahrerwissen: Korrekt müsste es Milford Fjord heißen, Sounds und Fjorde entstehen unterschiedlich) geht es dann per Boot. Wir gehen natürlich gleich rauf aufs Sonnendeck, wohin sich beim Ablegen aus dem Hafen noch ein paar wenige Sonnenstrahlen hin verirren, die aber schnell durch die ersten Tropfen und dann durch einen ordentlichen Bergregen abgelöst werden (Busfahrerwissen: 260 Tage im Jahr regnet es hier). Wir halten tapfer weiter auf dem Sonnendeck durch, was uns mit guter Sicht auf ein paar wirklich schöne Wasserfälle belohnt, von denen es im Milford Sound eine handvoll großer, von Bächen gespeiste gibt und unzählige große und kleine, die temporär nach Regenfällen entstehen. Die Tage vor unserem Besuch waren eher trocken, aber trotzdem sind um die 30 eher kleinere aktiv und spucken immer noch Wasser vom letzten Regen aus. Im Hafen steigen wir wieder in unseren Bus um und fahren dann, diesmal ohne Busfahrerkommentar, zurück nach Te Anau, wobei lediglich eine von Hunden die Straße entlang getriebene Bullenherde, die den Verkehr kurzzeitig lahmlegt, erwähnenswert ist.
 
Abends scheitern wir daran, schnell noch die nächsten Tage zu planen und beschließen deshalb, noch einen Tag länger in Manapouri zu bleiben, wo unser (in Neuseeland neu entdecktes) Ornithologenherz Gelegenheit bekommt, höher zu schlagen.